Ohne Polizei: Erste Hilfe für Opfer
Leiter der Ulmer Rechtsmedizin für den 1A-Award nominiert
Ganz am Rande des Universitätsgeländes steht ein alt-ehrwürdiges gelbes Haus. Es ist seit Jahrzehnten die Heimat des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Ulm. Mitte letzten Jahres kam mit dem neuen Leiter, Professor Dr. Sebastian Kunz, neuer Wind in das Gemäuer: Er hat dort eine Gewaltopferambulanz eingerichtet. Stellvertretend für sein Institut wird er für den 1A-Award nominiert.
Häusliche Gewalt, Kindesmisshandlung, sexueller Missbrauch, ein heimtückischer Überfall – es gibt viele Arten von gewalttätigen Übergriffen, oftmals sind es Beziehungstaten. Betroffene können sich in einer neuen Gewaltopferambulanz beraten und alle Spuren und Verletzungen gerichtsverwertbar dokumentieren lassen – ohne Beteiligung der Polizei. Sollte es später zu einer Gerichtsverhandlung kommen, können die erhobenen Befunde als Beweismittel für die Tat verwendet werden.
Auch Männer können betroffen sein
Die Entscheidung, ob oder wann ein Übergriff angezeigt wird, liegt jedoch allein bei den Betroffenen. Denn die Rechtsmediziner unterliegen der ärztlichen Schweigepflicht und können Informationen nicht selbstständig an die Polizei weitergeben. „Als Rechtsmediziner sind wir darauf spezialisiert, Verletzungen durch äußere Gewalteinwirkung zu dokumentieren und zu beurteilen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass sich Betroffene an uns wenden und sich nicht nur in einer Notaufnahme behandeln lassen“, so Prof. Kunz.
Die neue Gewaltopferambulanz agiert nicht isoliert, sondern kann sich eines großen Netzwerks bedienen. „Wir stehen in engem Kontakt mit Jugendämtern, Frauenhäusern, Hausärzten und natürlich den Ambulanzen für Pädiatrie und Gynäkologie unserer Uniklinik hier in Ulm. Obwohl es dauern wird, bis unser Angebot weitreichend bekannt ist, haben bereits einige Betroffene unser Angebot in Anspruch genommen“, resümiert Prof. Kunz. „Unser Ziel ist es, überregional Opfern von Gewalt zu helfen“, so der Chef der Rechtsmedizin weiter.
Die Gewaltopferambulanz bietet werktags von 9:00 bis 16:00 Uhr nach telefonischer Anmeldung unbürokratische und kostenlose Hilfe. Melden kann sich jeder, der körperliche Gewalt erfahren hat und die Spuren dokumentieren lassen möchte. „Erfahrungsgemäß sind das eher Frauen, was jedoch nicht heißt, dass Männer nicht betroffen sind. Bei ihnen ist die Hemmschwelle, Hilfe zu suchen, nur deutlich höher“, erklärt Prof. Kunz.
Er erwähnt auch, dass gerade Frauen mit Migrationshintergrund manchmal gar nicht wissen, dass man in Deutschland Misshandlungen zur Anzeige bringen kann.
Für die Ambulanz wurden eigene Räumlichkeiten am Standort Michelsberg ausgebaut und renoviert, sodass nun ein Wartebereich und ein speziell ausgestattetes Untersuchungszimmer zur Verfügung stehen. Geleitet wird die Station von der Rechtsmedizinerin Anna Müller.
Trotz des persönlichen Engagements des Teams um Prof. Kunz war die Einrichtung der neuen Gewaltopferambulanz nur möglich, weil das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration in Baden-Württemberg das Projekt finanziell unterstützt – mit 450.000 Euro bis Ende 2021.
Der Baden-Württembergische Sozialminister Manfred Lucha überzeugte sich selbst vor Ort davon, wie notwendig eine solche Institution ist. „Gerade die Möglichkeit der verfahrensunabhängigen und gerichtsfesten Spurensicherung sehe ich als entscheidenden Schritt zu einem besseren Opferschutz“, so der Minister. „Da Opfer von Vergewaltigungen oder sexueller Gewalt häufig die Anzeigeerstattung unmittelbar nach der Tat scheuen und selten den direkten Weg in eine Klinik zur medizinischen Notfallversorgung suchen, bietet die Gewaltambulanz ein wichtiges Angebot.“
Der Nominierte
Professor Dr. Sebastian Kunz (41) ist in Gräfelfing (Bayern) geboren und leitet die Rechtsmedizin in Ulm seit April 2020. Davor war er international tätig: An der Universität von Island in Reykjavik, an der Paris-Lodron-Universität in Salzburg (Österreich), am Institut für Rechtsmedizin in Stockholm (Schweden) und auch in Deutschland am Institut für Rechtsmedizin in München. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Bildquellen: Universitätsklinikum Ulm