Deutschlands erste Praxis ohne Arzt
Innovatives Projekt in Baden-Württemberg für den 1A-Award nominiert.
Ärztliche Hilfe auf dem Land zu finden, wird für Patienten zunehmend zur Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Der Grund: Viele Landärzte gehen in den Ruhestand und finden keine Nachfolger. Möglicherweise gibt es aber eine Alternative: Die „OhneArztPraxis“ auf dem Land.
In Baden-Württemberg starten die ersten Praxen Deutschlands, die nicht von Ärzten, sondern von medizinischen Fachangestellten geführt werden. Nach zweijähriger Vorbereitungszeit öffnen ab Oktober in den Gemeinden Spiegelberg und Zweiflingen zwei „TeleMedicon“-Standorte. Sie sind mit speziellen telemedizinischen Geräten ausgestattet, die es mitwirkenden Haus- und Fachärzten erlauben, sowohl eine Video-Sprechstunde mit den Patienten als auch eine große Anzahl diagnostischer Verfahren telemedizinisch durchzuführen. Damit sollen bereits bestehende oder drohende Versorgungslücken im ländlichen Raum geschlossen werden.
„Die medizinischen Fachangestellten führen die Tätigkeiten im Rahmen der ärztlichen Delegation für die teilnehmenden Ärzte aus“, sagt Dr. Tobias Gantner, Geschäftsführer der PhilonMed GmbH, die das Konzept der TeleMedicon-Praxen umsetzt. „Ein Ersetzen der ärztlichen Tätigkeiten durch andere medizinische Fachberufe ist nicht vorgesehen“, so der Arzt, Jurist und Gesundheitsökonom.
Die politischen und gesetzlichen Entwicklungen der vergangenen beiden Jahre machen das Projekt in dieser Form erstmalig möglich. Denn ausschließliche Fernbehandlungen kann man seit einigen Monaten über die kassenärztlichen Vereinigungen mit den gesetzlichen Krankenkassen abrechnen. Zumindest, solange Arzt und Patient sich bereits aus vorherigen Behandlungen persönlich kennen. Das ist der Kern des Konzepts der sogenannten OhneArztPraxen. „Wenn der telemedizinische Patientenkontakt nicht mehr aus-reicht, ist der Arzt aufgrund der kurzen Entfernungen auch kurzfris-tig persönlich erreichbar“, so Dr. Gantner. „Insoweit unterscheidet sich dieses Projekt von rein telemedizinischen Ansätzen, bei denen die behandelnden Ärzte irgendwo in Deutschland oder sogar im Ausland sitzen.“
Dr. Jens Steinat, Hausarzt im Nachbarort Oppenweiler, ist einer der ersten Ärzte, die sich für die Teilnahme an dem Projekt entschieden. „Wir versorgen bereits jetzt die Nachbargemeinden mit geringer Arztdichte oder fehlenden Hausärzten mit“, sagt der Arzt. „Wir wollen unseren Patienten ergänzend eine zukunftsfähige und innovative Versorgung mit telemedizinischen Möglichkeiten bieten, zusammen mit einem jederzeit möglichen persönlichen Arzt-Patientenkontakt.“
Technisch ist die Telemedizin heute bereits so weit entwickelt, dass für viele Untersuchungen gar kein persönlicher Kontakt mehr nötig ist. So übertragen Stethoskope Herz- und Lungentöne über sichere Kommunikationsleitungen an entfernte Standorte, wo der Arzt sie befunden kann. „Das Projekt ist auf die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger vor Ort sowie der Gemeinden angewiesen“, sagt Uwe Bossert, Bürgermeister von Spiegelberg. „Wir unterstützen es durch die Bereitstellung der Räumlichkeiten und der Geräteausstattung, denn eine ärztliche Versorgungsmöglichkeit im Ort halten wir für sehr wichtig.“
Die medizinische Diagnostik und Behandlung ist dabei nur ein erster Schritt. Das Konzept sieht vor, auch die Versorgung mit Arzneimitteln z.B. über elektronische Rezepte und Botendienste sicherzustellen. Auch weitere medizinische Dienstleistungen wie ein Sanitätsfachhandel oder Physiotherapie sind denkbar. Das Projekt wird aus Bundesmitteln mit 200 000 € gefördert.
Die Nominierten
Nominiert für den 1A-Award werden stellvertretend für das Projekt „OhneArztPraxis“ Dr. Tobias Gantner und Florian Burg von der PhilonMed GmbH als Betreiber der Praxen, Dr. Jens Steinat als beteiligter Arzt und Spiegelbergs Bürgermeister Uwe Bossert, dessen Gemeinde die Praxis und die Ausstattung für dieses Projekt bereitstellt.
Fotos: PhilonMed GmbH; Gemeinde Spiegelberg